Meine erste Begegnung mit einem Corporate-Design-Manual hatte ich vor knapp fünfundzwanzig Jahren. Herausgeber war Iveco und es manifestierte sich in zwei schwarzen Ordnern, mit Siebdruck Weiss bedruckt. Darin – aufwändig gestaltet, im Photosatz realisiert, mit Offsetdruck produziert – allerlei Normen, wie das Erscheinungsbild der Firma in Drucksachen zu gestalten sei. Allein das Kapitel «Stationary Forms», also Geschäftsdrucksachen, umfasste zwei Dutzend Seiten mit Angaben zu Seitenrändern in Millimetern, Schriftgrössen und Zeilenabständen in Punkt, Linienstärken, Abständen, Positionsangaben, Falzanleitungen. Allein, jene Publikation, die ich gerade zu erstellen hatte, war nicht darin.
Am Real Life zugrunde gehen
Seither hat meine Agentur weissnichtwieviele solcher Manuals selbst entwickelt. Mit Farbedefinitionen, die beim ersten Druck scheiterten; Seitenrändern, die der Marketingabteilung egal waren; Schriftgrössen, die keinen Texter interessierten und Logo-Grössen, die Facebook am Allerwertesten vorbei gingen. Es bestand die Absicht, Gesetze zu schaffen, die am Real Life zugrunde gingen oder dessen Existenz schlicht ignorierten – aber es ging halt nicht anders oder besser. Ich erlebte daraufhin Phasen der Anarchie, die mit Naomi Kleins (missinterpretierten) Buchs «No Logo» zusammenfielen und aus Ludwig Feuerbachs «Keine Religion ist meine Religion!» schien in Unternehmen «Kein Corporate Design ist mein Corporate Design!» zu werden. Die Zeit des «komm mir nicht mit Manuals!» verxfachte daraufhin die Kosten für die einzelne Publikation, weil gestalterische Freiheit sich wie Gas verhält: Sie breitet sich ungehemmt aus. Und das kostet.
Corporate Design macht happy
Es gab und gibt für Corporate Design meines Erachtens zwei rationale Gründe jenseits der Stilfrage: Erstens möchte das Unternehmen durch (Selbst-)Ähnlichkeit im Markt spontan wiedererkannt werden; zweitens möchte das Unternehmen durch Wiederholbarkeit Entwicklungskosten einsparen. Corporate Design ist das einzige, was Marketing und Management gleichermassen happy macht. Unhappy bleibt jedoch oft der Kreative, den das Corporate Design einzuschnüren beliebt, wobei er doch ungemindert hohe Innovationsansprüche zu erfüllen hat.
Waren vor zwanzig oder zehn Jahren kapitale Corporate-Design-Normenwerke noch durch engagierte Marketeers und Hausagenturen einigermassen durchsetzbar, verabschiedete sich deren Einfluss spätestens mit dem Aufkommen des Agenturpluralismus, des Mitmach-Webs und des Konzepts der Responsivität.1 Die Medienvielfalt und damit der Geltungsbereich von Corporate Design explodierte förmlich. Plötzlich gab es für nichts mehr Dimensionen oder Proportionen, an denen man Designmerkmale sinnvoll ausrichten konnte. Aus Betrachtern wurden Benutzer und die konnten sich auch noch selbstbestimmt einstellen, wie sie etwas sehen wollten. Was hier und heute passte, war plötzlich dort und morgen Blödsinn. Als Reaktion beobachte ich heute noch zwei Tendenzen in den Unternehmen: Normierungswut auf der einen Seite, Anything goes auf der anderen Seite und dazwischen kaum etwas.
Normierungswut und Gesetzesflut
Die Normierungswut führt zu einer Gesetzesflut, die nur so gut ist, wie deren Kontrollen beziehungsweise deren Einhaltung. Ein Anything goes führt die rationalen Gründe für Corporate Design (siehe oben) ad absurdum. Beides ist weder für Marketing noch Management erstrebenswert, vom gern vergessenen Kunden einmal ganz abgesehen. Letzterer sehnt sich – niedrig dem menschlichen Naturell folgend – nach linearer Kontinuität, Stringenz, Konsistenz und vor allem nach Sicherheit. Erst recht in medial bewegten Zeiten.
Ein für mich richtungsweisendes Konzept entstand 2016 durch Brad Frost mit dem Ansatz von Atomic Design – in Kombination mit der Philosophie der Projektmethode Scrum. Mir wurde klar: Wenn Corporate Design in der Dynamik des Alltags versagt, schaffe ein System, das durch Dependenzen funktioniert und agil anpassbar ist – wobei agil auf keinen Fall jederzeit meint. Das einzig funktionierende Konzept ist handle und lerne – lerne und handle!
Handeln aus Überzeugung
Der Grundstein für ein solches Konzept bleibt die Überzeugung eines Unternehmens, dass Corporate Design einen evidenten Vorteil bringt. Danach geht es darum, die Elemente, die sich durch die spontane Wiedererkennbarkeit und Wiederholbarkeit auszeichnen, in eine Ordnung zu bringen. Die Ordnung lautet, Frosts Atomic Design folgend, Atome von Molekülen, Moleküle von Organismen und Vorlagen von fertigen Produkten zu unterscheiden. Werden einem die Erbgänge einmal bewusst, entsteht ein Bauplan, auf den jederzeit bewusst Einfluss genommen werden kann.
In meiner Agentur bauen wir heute bereits Marken – also nicht erst deren Biotop, das Corporate Design – nach dieser Methode. Je agiler jedes einzelne Element der Unternehmenskommunikation ausgerichtet ist, umso besser. Natürlich ist das weit entfernt von «Anything goes», denn die einzelnen Bestandteile und deren Abhängigkeiten eines Atomic Design sind strikt geregelt – solange, bis ein äusserer oder innerer Einflussfaktor verlangt, eine bestehende Regel zu überarbeiten. Durch transparente Dependenzen lässt sich ein Prozess zur Überarbeitung unmittelbar einleiten, dank innovativer Werkzeuge wie Trello steuern, die Erkenntnisse dank agiler Kollaborationswerkzeuge wie Jira und Confluence festhalten und manchmal sogar dank kollaborativer Designtools wie Figma teambasiert umsetzen. In Anlehnung an Scrum, wo es einen Scrum Master braucht, der alles zusammenhält, braucht es hier allerdings einen Design Master.
Handle und lerne – lerne und handle
Handle und lerne – lerne und handle ist bei Branding und Corporate Design ein radikal anderes Konzept als das Manual der Iveco vor knapp fünfundzwanzig Jahren. Das Konzept ist ebenso achtsam gegenüber der Investitionssicherheit – durch die Transparenz von Dependenzen – als auch gegenüber sich ständig verändernden Anforderungen durch technologische und gesellschaftliche Trends, dank des Konzepts der agilen Weiterentwicklung.
Fussnote
- Das Design passt sich dem Ausgabegerät an. ↩︎