«Design Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie agil entwickelt und gewartet werden sowie eine Fähigkeit zur Resilienz besitzen, also nicht gleich kaputt gehen, wenn man sie biegt. Das setzt einen bestimmten Mindset voraus, der sich wohl am besten beschreiben lässt aus einem hohen Antrieb zur Ordnung und einer kontrollierten Lust aufs Experiment und aufs Tun-Tun-Tun.»

«Was versteht ihr unter Design System?» – eine Definition beyond the buzzword

Bis zum Auftauchen des Begriffes «Design System» unterschieden wir bei #dezemberundjuli in unserer Terminologie umständlich zwischen Konzepten, also «Bauplänen», für Brand Design, Corporate Design, Product Design, Interior Design, Campaign Design oder Interface Design. Und doch fehlte irgendwie immer der richtige Begriff. Jetzt ist der da und in aller Munde: Design System.

Wir verstehen den Begriff «Design System» in seiner reinsten Form, losgelöst von technischen Aspekten (wie Style Guides für Websites) und Anwendungsgebieten (wie User Interface Design). Nämlich als Prinzip, nach dem kommunikationsrelevante Gestaltungselemente geordnet werden. Diese Begriffsdeutung lässt berechtigterweise die Vermutung zu, es handle sich tatsächlich nur um ein Buzzword, das allein alten Wein in neue Schläuche füllt. Solche «Prinzipen» schreiben wir schliesslich seit 20 Jahren in Corporate-Design-Manuals, was soll daran also neu sein und wieso braucht es einen neuen Begriff? Ganz einfach: Heute ist alles anders als gestern.

Alles VUCA oder was?

«Design System» sagt in erster Linie etwas über die Herangehensweise oder die Methodik aus und vorerst einmal nichts über das Anwendungsgebiet. Das ist für uns eine erfreuliche Entwicklung. Design Systeme kommen dort zum Einsatz, wo wir gerne zur Umschreibung den Begriff «Gesamtlösung» verwenden, also in einem Umfeld, das sich durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit1 auszeichnet und differente Entitäten2 betrifft.

In einem solchen Umfeld kann man nun versuchen, Regeln zu definieren, deren Einhaltung zu kontrollieren und Missbrauch zu saktionieren. Das Ergebnis ist eine Regelflut und ein gewaltiger Kontrollaufwand ohne Strafnorm. Man könnte aber auch annehmen, dass, was nicht zu regeln ist, besser unreguliert bleiben soll. Diese Haltung widerspricht jedoch dem Willen (Will), Aufwandreduktion (etwa durch Mehrfachverwendung) und Wiedererkennbarkeit sicherzustellen (etwa, um Nutzern Sicherheit zu vermitteln).

Mittelweg, aber bitte kein Mittelmass

Zwischen hoher Regulierung und simplem «Laissez-faire» spielen Design Systeme ihre Stärken aus. Wichtigste Voraussetzung für Design Systeme ist, sie mit möglichst wenigen Altlasten aufbauen zu können. Natürlich ist niemand vor dem Satz «Aber das haben wir immer schon so gemacht!» gefeit, wer jedoch darauf besteht, dass sein Logo immer oben rechts im Format steht, verunmöglicht die Methodik von Design Systemen.

Ein wesentlicher Aspekt für Gesamtlösungen in der heutigen Zeit ist, konsequent in Normen und Richtlinien zu denken und dabei den Richtlinien grössere Bedeutung beizumessen als früher – um dadurch den Lösungsbereich zu erweitern und die Flexibilität zu erhöhen.

Das bringt mich nun gleich auf die zwei grössten Bedrohungen von Design Systemen: Die bereits erwähnten Bewahrer starrer Vorgaben einerseits und die Anarchisten andererseits. Design Systeme bieten die Freiheit für anwendungsspezifische Exzellenz, aber auch die Freiheit, alles falsch zu machen. Sagen wir es einmal so: Design Systeme sind etwas für erfahrene Profis. Wo selbsternannte «Kreative» am Werk sind, werden bald wieder Gesetze, Polizisten und Strafen eingeführt. Da hält es die Designwelt mit der realen.

Sind Sie schizophren genug?

Design Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie agil entwickelt und gewartet werden sowie eine Fähigkeit zur Resilienz besitzen, also nicht gleich kaputt gehen, wenn man sie biegt. Das setzt einen bestimmten Mindset voraus, der sich wohl am besten beschreiben lässt aus einem hohen Antrieb zur Ordnung und einer kontrollierten Lust aufs Experiment und aufs Tun-Tun-Tun. Design Systeme verlangen also nach einer gesunden Portion Schizophrenie.

Ist diese gegeben, braucht ein Design System einen oder mehrere Gatekeeper3, die über Änderungen am System Entscheidungshoheit haben, denn ein freiheitsliebendes System ist eben nicht das gleiche wie eine Anarchie. Diese Gatekeeper verfügen über den oben beschriebenen schizophrenen Geist und haben zudem die Fähigkeit, die Auswirkungen von Anpassungen in die nähere Zukunft vorauszuahnen. Darüberhinaus müssen Gatekeeper fähig sein, in einem Normen- und Richtlinien-Schema zu denken. Normen regulieren, was wenig Spielraum zulässt, Richtlinien orientieren darüber, was grundsätzlich zu gelten hat. Je nach Anforderungsprofil der Gesamtlösung, dominieren entweder die Normen oder die Richtlinien. Es ist auch möglich, dass erst die Richtlinien dominieren und später die Normen. Ein Design System kann immer wieder aufs Neue die Frage beleuchten: Wie viel Regulierung ist nötig, wie viel Freiheit ist möglich? Und situativ Antworten liefern. Was heute gilt, gilt auch morgen noch – aber unter Umständen eben anders als gestern noch.

Eine weitere immanente Eigenschaft von Design Systemen ist ihre Speicherung und das führt uns zu Tools. Im dynamischen Umfeld taugen schwerfällige und zentralistische Ablagesysteme nicht, Versionierung und automatisiertes Informationsmanagement spielen eine wichtige Rolle. Jeder muss an die Informationen kommen, die er braucht und jeder muss informiert werden, wenn sich etwas ändert. Je nach Anwendungsgebiet des Design Systems können die Werkzeuge anders aussehen, wobei kollaborative Aspekte und damit die Teamgrösse eine zentrale Rolle spielen (Confluence/Jira/Trello, Figma, Adobe Cloud, WordPress).

Voraussetzungen für Design Systeme

Zusammengefasst kann man nun sagen, dass ein Design System folgende Grundbedingungen an einen erfolgreichen Einsatz stellt:

  1. Will (mir ist klar, dass bei meinem Vorhaben Vorteile durch Regulierung entstehen)
  2. Mindset (ich will geordnete Freiheit und freiheitliche Ordnung)
  3. Gatekeeper (ich verlasse mich auf die Entscheidungen anderer, wenn auch nicht blind)
  4. Tool (ich akzeptiere neue Werkzeuge und Vorgehensweisen)

Erste Erfahrungen

Ich bin ehrlich: Jedes Design System ist ein neues Experiment, unsere Erfahrung schöpfen wir aus noch starr formulierten Systemen der letzten 20 Jahre und deren täglichen Umsetzung. Jüngst machen wir gute Erfahrungen damit, ein Design System von den Richtlinien herkommend aufzubauen. Wir halten aktuell beispielsweise in einem Brand Mood Board Stimmungen fest, die eine Marke durch die Orientierung an bestimmten Richtlinien auslösen soll. So entsteht eine Art Verfassung und spätere Normen – also die Gesetze um bei dieser Metapher zu bleiben – dürfen diese nicht untergraben. Gerade dieses Brand Mood Board muss überwacht und dynamisch ergänzt werden können. Jede Person im Unternehmen sollte es kennen und über Änderungen informiert werden. Am Beispiel des Markenauftrittes ergänzen wir das Brand Mood Board durch ein Brand Model also eine Komponentensammlung, die Abhängigkeiten aufzeigt – zusammen bilden Sie das Brand System. Je nach Anforderungsprofil eignet sich hier Brad Frosts Atomic Model, das Elemente durch Vererbung miteinander verknüpft. Egal, welche Struktur man für ein Design System wählt: Wichtig ist, dass es dehnbar und ausbaubar bleibt und jede Veränderung daran bewusst geschehen kann.

Weiterführende Literatur

Brad Frost, Atomic Design
Charles Sanders Peirce, Semiotische Schriften 1–3
Umberto Eco, Einführung in die Semiotik
Gui Bonsiepe, Interface – Design neu begreifen
User Control – Directness – Consistency – Forgivness – Feedback – Aesthetics – Clarity: Guidelines for Windows Development

Fussnoten

  1. Wohl nicht umsonst, hypt der Begriff «Design System» in Zeiten der VUCA-Welt (volatility (Unbeständigkeit), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit). ↩︎
  2. Verstanden als eindeutig zu bestimmendes, kommunikationsrelevantes Objekt, über das also Informationen gespeichert oder verarbeitet werden sollen. ↩︎
  3. Mir gefällt das Bild, das dieser Begriff assoziiert: Nach Walter Lippmann ein personeller Einflussfaktor, der eine wichtige Position bei Entscheidungsfindungsprozessen einnimmt (vgl. Wikipedia). ↩︎